DIW-Studie: Für eine Stärkung des Bürgergelds
Das Bürgergeld soll gekürzt werden, doch die Leistungen sind schon jetzt zu niedrig. Die Folgen: Scham, mangelnde Teilhabe und ein unwürdiges Leben. Das muss sich ändern, so Marcel Fratzscher, Präsident im Vorstand des DIW in Berlin, in seiner Analyse.
Sein Fazit: "Die neue Bundesregierung will das Bürgergeld abschaffen, Leistungen kürzen und Sanktionen verschärfen. Das ist ein großer Fehler. Solche Maßnahmen steigern die Armut, mindern die Teilhabe, verschlechtern die Arbeitsmarktchancen und rauben vielen Bürgergeldempfänger*innen ihre Würde. Diese Reformen bringen nur Verlierer hervor. Der Schaden für die Betroffenen, unsere Demokratie und den Sozialstaat wäre beträchtlich. Die Bundesregierung sollte einen anderen Kurs einschlagen und das Bürgergeld gezielter gestalten. Zudem sollte sie auf verschärfte Sanktionen verzichten, da diese sich langfristig – laut einer IAB Studie der Bundesagentur für Arbeit – eher als kontraproduktiv erwiesen haben."
Eltern verzichten auf Essen
In einer von Fratzscher begleiteten Studie (siehe unsere Meldung) haben über die Hälfte der befragten Eltern angegeben, auf Essen zu verzichten, damit die eigenen Kinder genug zu essen haben. Nur jede zweite Familie kann sich mit dem Bürgergeld ausreichend ernähren.
Die Scham erwirkt einen Rückzug aus der Gesellschaft
Diese Lebensrealität nimmt vielen Menschen ihr Selbstwertgefühl und ihre Würde. Drei von vier Bürgergeldempfängern empfinden, dass sie kein würdevolles Dasein führen können. Nur einer von zehn sieht sich noch als Teil der Gesellschaft. Fast die Hälfte empfindet Scham, auf Bürgergeld angewiesen zu sein. Die Folge ist der Rückzug aus sozialer, gesellschaftlicher und politischer Teilhabe. Wer ausgegrenzt wird, findet schwer zurück – in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt.
Mehr statt weniger staatliche Unterstützung
Über die Hälfte der Bürgergeldempfänger*innen glaubt nicht mehr daran, aus eigener Kraft den Weg in Arbeit und in ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Das zeigt: Es braucht mehr, nicht weniger staatliche Unterstützung – nicht nur finanziell, sondern auch im System selbst, so Fratzscher.
Ernstnehmen statt stigmatisieren
Was also tun? Die Politik muss zunächst zuhören, die Perspektiven und Sorgen der Betroffenen ernst nehmen, statt sie pauschal als faul zu stigmatisieren. Mit der Anhebung des Mindestlohns ist auch eine Erhöhung des Bürgergelds notwendig und gerechtfertigt. Zudem braucht es eine ernsthafte Investition in die Arbeitsmarktintegration.
Der Staat muss mehr in Jobcenter investieren – in Qualifizierung, Weiterbildung und Eingliederungshilfen – und gezielt dort stärken, wo es an Mitwirkung fehlt oder Missbrauch vorliegt.
Alleinerziehenden fehlt Kinderbetreuung
Rund 800.000 Bürgergeldempfänger*innen – überwiegend alleinerziehende Mütter – sind erwerbstätig. Sie verdienen jedoch zu wenig und müssen daher aufstockend Bürgergeld beziehen. Ein häufiger Grund ist, dass sie wegen fehlender oder unzureichender Kinderbetreuung nur in Teilzeit arbeiten.
Nur geringer Anteil an Totalverweigerern
5,4 Millionen Menschen leben in Deutschland vom Bürgergeld. Die überwältigende Mehrheit der Bürgergeldbeziehenden will arbeiten und ein Leben in Würde führen. Dem gegenüber stehen im Jahr 2023 rund 16.000 Totalverweigerer, deren Verweigerungshaltung geahndet werden muss. Doch diese Minderheit darf nicht als Rechtfertigung für eine Politik herhalten, die Millionen Menschen pauschal unter Verdacht stellt, so Fratzscher.
Die wenigen Studien, die es gibt, zeigen für den Wissenschaftler, dass Sanktionen langfristig kein effektives sondern eher ein kontraproduktives Instrument sein können.
Dauerhafte statt Mini-Jobs
Der kurzfristige Beschäftigungseffekt beruht vor allem auf schlechter bezahlten Jobs. Die Chance, eine besser bezahlte oder qualifikationsgerechte Arbeit zu finden, ist für Sanktionierte dauerhaft geringer. Frauen nehmen häufiger Minijobs an. Zudem steigt das Risiko, erneut arbeitslos zu werden: Im ersten Jahr beträgt es bei Männern um 16 % bei Männern, 28 % bei Frauen.
Das Ziel sollte sein, mehr Menschen aus dem Bürgergeld dauerhaft in Arbeit zu bringen.
Populismus hilft gar nichts
Es ist höchste Zeit, den populistischen Angriff auf das Bürgergeld zu beenden, do der DIW-Präsident. Dieser Populismus grenzt aus, stigmatisiert und verschlechtert die Chancen auf Wiedereingliederung. Die langfristigen Konsequenzen sind katastrophal – besonders für Kinder, die von klein auf ausgegrenzt und geprägt werden und später als Erwachsene häufig selbst im Leistungsbezug bleiben. Auch unsere Demokratie leidet, wenn große Teile der Bevölkerung keine Teilhabe mehr erleben. Die Lösungen liegen auf dem Tisch: ein Ende des Populismus – und stattdessen Investitionen in Teilhabe, Würde und Arbeitsmarktintegration.
Quelle: Blog Marcel Fratzscher vom 07.07.2025